Was hinter den Ankaras Tiraden gegen Athen steckt – und warum man genau hinhören sollte, worauf Recep Tayyip Erdoğan die türkische Bevölkerung vorbereitet.
Die Rhetorik verheißt nichts Gutes. Es vergeht kaum ein Tag ohne verbale Tiefschläge. Recep Tayyip Erdoğan ist bekannt dafür, dass er austeilen kann. Eine bevorzugte Zielscheibe der sprachlichen Attacken ist seit einigen Monaten der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis. »Für mich existiert jemand mit dem Namen Mitsotakis nicht mehr«, polterte Erdoğan Ende Mai in Richtung Athen. »Ich werde niemals akzeptieren, wieder mit ihm zusammenzutreffen«, so der türkische Präsident, der Mitsotakis sodann als unehrlich und charakterlos abtat.
Das Timing der politischen Unhöflichkeiten ist bemerkenswert. Nur wenige Wochen zuvor hatten sich die Politiker zu einem Spitzengespräch in Istanbul getroffen, Hoffnung keimte auf, dass eine Phase der Entspannung in den leidgeplagten Beziehungen der ägäischen Nachbarn bevorstehe. Doch es sollte anders kommen. Seither sind die Beziehungen zwischen Athen und Ankara in den Keller gerutscht, immer neue Spannungen entzweien die NATO-Verbündeten an der Südostflanke der westlichen Allianz.
Bodensatz für Feindbilder
Die Wurzeln des Konfliktes reichen weit zurück. Es ist nicht einfach, den Ursprung der griechischen-türkischen Feindseligkeiten, denn eine derartige Qualität hat das Verhältnis, chronologisch genau zu definieren. Ohne Rückgriff auf die Geschichte kommen wir hier nicht weiter. Das wird gerade in diesen Zeiten deutlich, da in beiden Ländern mit großem Aufwand epochaler Ereignisse vor einhundert Jahren gedacht wird: Der griechisch-türkische Krieg von 1919/22 verdeutlich wie kein anderes Ereignis das Spannungsverhältnis zwischen griechischem und türkischem Nationalismus. Während der Ausgang des Waffengangs in Griechenland als »kleinasiatische Katstrophe« betrauert wird, feiern die Türken die Vertreibung der Griechen aus Anatolien als glorreichen Sieg im nationalen Befreiungskampf.
Ähnlich wie sich die Griechen in ihrem Freiheitskampf, der 1821 losbrach, gegen die osmanischen Türken durchsetzen und sich mit einem eigenen Staat konstituieren, entsteht hundert Jahre später der moderne türkische Staat aus dem Abwehrkampf gegen eine griechische Invasion heraus. Die Kriege, Pogrome, Massaker und Vertreibungen der Vergangenheit bilden den Bodensatz für Feindbilder und nationale Stereotype der Gegenwart, zumal zu keinem Zeitpunkt ernsthafte und nachhaltige Versuche unternommen wurden, die negativen Wahrnehmungen zu überwinden.
Zurück ins hier und heute: Auffällig ist, dass Griechenland in der Außenpolitik der Türkei derzeit eine Sonderstellung einnimmt – im negativen Sinne: Während Erdoğan mit einer sogenannten Charmeoffensive an vielen außenpolitischen Fronten zerschlagenes Porzellan kitten will und diesbezüglich mit Israel, Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), ja selbst Ägypten weit vorangekommen ist, bleiben die Griechen von der türkischen Wohlfühl-Diplomatie demonstrativ ausgeklammert.
Woran das liegen mag, beschäftigt die Kommentatoren und Analysten in diversen Beiträgen: Erdoğan selber bezeichnet den Auftritt von Kyriakos Mitsotakis vor dem US-amerikanischen Kongress im Mai dieses Jahres als »point of no return«. In Washington hatte der Harvard-geschulte griechische Premier, ohne die Türkei namentlich zu erwähnen, die Abgeordneten von Senat und Repräsentantenhaus davor gewarnt, moderne US-Waffen an den Nachbarn in Anatolien zu liefern: »Das letzte, was die NATO in diesen Zeiten, da unser Fokus darauf liegen muss, der Ukraine zu helfen, die Aggression Russlands zu besiegen, ist eine weitere Quelle der Instabilität an der Südostflanke der NATO«, so Mitsotakis vor der Versammlung der Parlamentarier. »Und ich bitte Sie, dieses zu bedenken, wenn Sie Entscheidungen über Waffenlieferungen mit Bezug zum östlichen Mittelmer fällen.«
Konkret geht es um die Lieferung von modernen Kampfjets des Typs F-16, die die diesbezüglich in Rückstand gefallene türkische Luftwaffe dringend benötigt. Das Thema nimmt längst einen Spitzenrang im alles andere als harmonischen US-türkischen Verhältnis ein. Athen ist es gelungen, nicht zuletzt über die Mobilisierung der unverändert einflussreichen griechischen Lobby in den USA zu einem mächtigen Faktor in dieser Frage zu werden – zum Unmut der türkischen Regierung, versteht sich.
Geostrategische Großwetterlage
Die USA spielen traditionell eine dominierende Rolle in den griechisch-türkischen Fragen, suchen den Ausgleich und setzen entsprechend auf Äquidistanz. Ein Bündel von Faktoren hat dafür gesorgt, dass das Pendel in Richtung Griechenland ausgeschlagen ist. Dazu zählen die Situation der Menschenrechte in der Türkei, vor allem Erdoğans multidimensionale Außenpolitik und die – im Zuge des Krieges in der Ukraine – verstärkte Abwendung vom Westen.
Ohne die Einbeziehung der geo-strategischen Großwetterlage sind auch die – bilateralen – griechisch-türkischen Differenzen kaum zu verstehen. Obwohl internationale Akteure immer wieder eingegriffen haben, um eine militärische Eskalation zwischen den westlichen Verbündeten zu verhindern, ist eine Lösung der Konflikte nicht in Sicht. Im Gegenteil: über die Jahrzehnte hat sich neuer Streitstoff angesammelt.
Der ungelöste Zypern-Konflikt kann dabei als die Mutter aller griechisch-türkischen Differenzen bezeichnet werden. Während die Türken die Invasion und Teilung im Sommer 1974 als »Friedensoperation« feiern, stellen Athen und die von griechischen Zyprioten geleitete Regierung der Republik Zypern den Vorgang mit Putins Aggression gegen die Ukraine gleich.
Ungezählte Bemühungen, den Streit auf und um die Insel im Rahmen der Vereinten Nationen zu lösen, sind im Sande verlaufen. Ankara tritt inzwischen offen für die Zwei-Staaten-Lösung ein und wirbt international ohne Erfolg für die Anerkennung der abtrünnigen türkisch-zypriotischen Republik im Norden des Eilands. Die politischen Bemühungen, auf dem Verhandlungsweg eine Wiedervereinigung unter einem föderalen Dach zu erreichen, sind zum Stillstand gekommen; von einem »eingefrorenen Konflikt« sprechen die Experten.
Zuspitzung in der Ägäis
Alles andere als eingefroren sind die Streitigkeiten in der Ägäis und dem angrenzenden östlichen Mittelmeer, wo Athen und Ankara in gleich mehreren Fragen über Kreuz liegen. Die Entstehung der Zwistigkeiten geht auf die Entdeckung von Öl- und Gasvorkommen im Ägäischen Meer in den 1970er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts zurück. Seither streiten die Anrainerstaaten darüber, wo die Grenzen in der Ägäis verlaufen.
Im Wesentlichen geht es dabei um die Abgrenzung der Festlandsockel – und damit verbunden der Ausschließlichen Wirtschaftszonen (AWZ). Während Athen die vom geltenden Seevölkerrecht gedeckte Position vertritt, dass Inseln – und derer gibt es in der Ägäis zahlreiche – über einen eigenen Festlandsockel verfügen, negiert Ankara diesen Grundsatz – und hat maßgeblich auch aus diesem Grund die UN-Seerechtskonvention nicht ratifiziert.
Die Differenzen über die maritimen Hoheitszonen haben in den zurückliegenden Jahrzehnten wiederholt zu gefährlichen Zuspitzungen geführt – zuletzt im Sommer 2020, als Ankara das Forschungsschiff »Oruc Reis« in Seegebiete auf Erdgassuche entsandte, die nach den Bestimmungen der UN-Konvention zur AWZ Griechenlands gehören. Damals war es vor allem eine beherzte diplomatische Vermittlung Angela Merkels, die zu einer Beruhigung der Gemüter führte.
Uneins sind Griechen und Türken nicht nur über die Grenzen unter und auf den Gewässern. Auch der Luftraum über dem Ägäischen Meer ist eine Kampfzone – und zwar politisch wie militärisch. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass türkische Kampfjets über der Ägäis in von Griechenland beanspruchte Hoheitszonen eindringen. Die Aktionen sind brandgefährlich, da sie stets griechische Abfangmanöver auslösen und – so die Befürchtung – dabei Unfälle passieren, wenn nicht gar scharfe Waffen eingesetzt werden können.
Der Streit in der Luft – oder über die Luft über der Ägäis – ist komplizierter, als es zunächst scheint: Anders als international üblich, macht Athen seit jeher eine zehn Seemeilen breite Hoheitszone im Umkreis seiner Inseln geltend, wobei die Hoheitszone auf dem Meer sechs Seemeilen beträgt. Die türkischen Flugmanöver finden längst nicht nur im Umfeld der Inseln statt. »In einigen Fällen donnerten türkische Bomber in nur 300 Metern Höhe über bewohnte griechische Inseln«, berichtet ein deutscher Korrespondent. Tatsächlich informiert der griechische Generalstab akribisch über die Zwischenfälle im Luftraum. In den zurückliegenden Wochen und Monaten sei es, so die Statistik, zu einem dramatischen Anstieg der Hoheitsverletzungen gekommen.
Alter Konflikt, neue Spannung
Als wäre all dies nicht genug, sorgt seit einiger Zeit ein weiterer alter Teilkonflikt für neue Spannungen. Hierbei geht es um den militärischen Status der ostägäischen griechischen Inseln, konkret um die zwischen Athen und Ankara umstrittene Frage, ob und in welchem Umfang auf den griechischen Inseln wie beispielsweise Rhodos, Kos, Samos oder Lesbos, um nur einige namentlich zu erwähnen, Militär stationiert werden und Befestigungsanlagen errichtet werden dürfen.
Die völkerrechtlichen Verträge, in denen der Anschluss der Inseln an Griechenland geregelt ist – hier geht es um das Vertragswerk von Lausanne von 1923 und den Vertrag von Paris von 1947 – enthalten Entmilitarisierungsklauseln, deren Tragweite von Athen und Ankara unterschiedlich beurteilt wird. Unbestritten ist, dass Athen im Zuge der türkischen Invasion auf Zypern 1974 die Militarisierung der Inseln vorangetrieben hat, um einem befürchteten Angriff vom nahegelegenen Festland nicht wehrlos ausgesetzt zu sein. Während Athen sich auf das Recht auf Selbstverteidigung beruft, führt Ankara den Wortlaut der Verträge ins Feld.
Eine neue Dimension hat die Militarisierungsfrage erreicht, seitdem Ankara die Souveränität Griechenlands über die Inseln unmittelbar mit der Frage von deren Bewaffnung in Zusammenhang bringt – und somit indirekt, aber schwer zu überhören, die griechische Hoheit über die Inseln in Frage stellt: »Griechenlands Souveränität über die Inseln war und bleibt abhängig von deren Entmilitarisierung«, heißt es in einem offiziellen Schreiben Ankaras an den Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, vom 30. September des vergangenen Jahres.
Revisionistische Rhetorik
Die förmliche Anzweifelung der griechischen Souveränität über die ostägäischen Inseln auf hohem diplomatischem Niveau geht einher mit einer Reihe revisionistischer Verlautbarungen aus dem Kreis der türkischen Regierung. Als Scharfmacher auch gegenüber Griechenland erweist sich Devlet Bahçeli, der Vorsitzende der nationalistischen MHP-Partei und enger Verbündeter Erdoğans. »Die Frage der Dodekanes, die die Fortsetzung Anatoliens darstellt, ist eine Wunde, die noch nicht geschlossen ist«, sagte der Koalitionspartner des Präsidenten. »Die (von der Türkei) gestohlenen Gegenstände müssen dem Eigentümer zurückgegeben werden, ob aus freien Stücken oder mit Gewalt.«
Auch Erdoğan stimmt immer wieder in den irredentistischen Chor gegen den Nachbarn im Westen ein und droht den Griechen offen mit einem Angriff: »Wenn die Zeit und die Stunde gekommen sind, werden wir das Notwendige tun«, so Erdoğan. »Wie wir immer sagen: Eines Nachts können wir ohne Vorwarnungen kommen.«
Es sind Formulierungen, die den Türken – und ihren Nachbarn im Süden und Osten – nicht unbekannt sind. Erdoğan hatte sie bisher reserviert für Ankündigungen bevorstehender Militäroperationen gegen kurdische Kämper im Irak und in Syrien. Die Übertragung der Formel auf den Bündnispartner Griechenland ist neu und sorgt nicht nur in Griechenland, sondern auch im westlichen Bündnis für helle Aufregung. »Bedrohungen und aggressive Rhetorik sind nicht akzeptabel und müssen aufhören«, sagte ein Sprecher der Europäischen Union an die Adresse Ankaras gerichtet.
Begleitet wird der Krieg der Worte mit grafischen Darstellungen, die die türkischen Ansprüche über weite Teile des Ägäischen Meeres visualisieren. Dabei ging es zuletzt um ein Foto, das den bereits erwähnten Devlet Bahçeli vor einer Landkarte zeigt, die die gesamte Osthälfte der Ägäis inklusive der griechischen Inselperipherie und Kreta im Süden als türkisches Staatsgebiet ausweist.
Bemerkenswert ist, dass die Grenzziehungen auf der Darstellung der Ultranationalisten weitgehend deckungsgleich sind mit der imaginären Linie des »Mavi Vatan«-Konzeptes. Hierbei geht es um die Doktrin des »Blauen Vaterlands« der türkischen Seestreitkräfte. Diese wird von Erdoğan befördert; in den entsprechenden Land- und Seekarten sind weite Teile des griechischen Staatsgebietes ebenfalls der Türkei zugeschlagen.
Unterschiedliche Narrative
Wer in diesen Tagen die Zeitungen in der Türkei und Griechenland liest, trifft sehr unterschiedliche Narrative an. In den von der Regierung gegängelten türkischen Medien ist Griechenland der Aggressor. In Griechenland ist es genau andersherum: Für die meisten Griechinnen und Griechen heizt Erdoğan – und nur dieser – die Spannungen an.
Der griechisch-türkische Konflikt ist längst auch ein Thema der internationalen Politik. Beide Seiten internationalisieren die bilateralen Fragen – in der EU, der NATO und in ihren Beziehungen mit den USA. Auf dem Terrain der internationalen Diplomatie steht Athen derzeit als Sieger da. Die EU und zuletzt auch die Vereinigten Staaten haben Erdoğan zur Ordnung gerufen.
Auch in den Kommentaren und Berichten der großen internationalen Medien sucht man vergeblich nach Veröffentlichungen, die die türkischen Positionen stützen. Die mediale Marginalisierung Ankaras ist ein Symptom einer fortgeschrittenen Distanzierung der Türkei vom Westen.
Wir erleben eine geostrategische Reorientierung der Türkei, die sich längst als aufstrebende regionale Vormacht sieht. In diesem Narrativ, das keiner besser verkörpert als Präsident Erdoğan persönlich und dem eine große Mehrheit der türkischen Bevölkerung zustimmt, dominieren die nationalen Interessen der Türkei über allen anderen Überlegungen. Für eine Rücksichtnahme auf die bislang immer wieder mäßigende Einwirkung der EU, und vor allem der NATO, gibt es immer weniger Platz.
Der Frieden in der Ägäis – und hier zeigt sich das schlimmste Szenario – könnte das erste Opfer eines Bruches der Türkei mit dem Westen sein. In seiner Rhetorik bereitet Präsident Erdoğan die Bevölkerung schon auf dieses Szenario vor.
Dr. Ronald Meinardus leitet das Mittelmeer-Programm des Athener Think Tanks ELIAMEP.